Er ist mitten unter uns, dieser Mann, der sich zu Tode liebt.

Fast 250 Jahre nach seiner Geburt aus Goethes Feder stellt Philipp Hochmair einen Werther auf die Bühne, der mit einem Atemzug Jahrhunderte zusammenschmelzen lässt auf das, was einst wie heute uns Menschen zu Ausgelieferten machen kann: Leidenschaftliche Liebe.

Und Werther liebt. Ganz und gar. In Briefen an seinen Freund Wilhelm lässt der gerade 25-jährige Goethe 1774 seine Figur diesen Liebes- und Leidensweg schildern, lässt uns so als Leser dieser Zeugnisse verzweifelter Selbstbeschau Zeuge eines unabänderlich heranrückenden Niedergangs werden, dass es einem mehr und mehr die Kehle zuschnürt, so wie dieser von seiner exzessiven Liebe Gejagte durch die Macht seiner übergroßen Hingabe aus dem Leben getrieben wird. Werther ist nicht zu retten. Wer so liebt, ist es nicht, ganz gleich, was Albert, Lottes geerdeter Verlobter, an moralischen Grundprinzipien zum Thema "Selbstmord" ins Feld führt. Der besonnene, gefühlsgezügelte Aufklärer in Goethes Roman scheint das wahre Leben nicht zu kennen, scheint die Liebe nicht zu kennen, die Werther, den Stürmer und Dränger, wie ein gewaltsames, anhaltendes Fieber geflutet hat.

Doch wir erleben und begreifen es. Denn wie Nicolas Stemann diese Figur mit einem Minimum an Requisiten, in einer 90-minütigen Bühnenversion diese zeitlose Unrettbarkeit den Zuschauer miterleiden lässt, ist großes Theater! Da wird eine zu Boden geschmetterte Vase zum legendären Gewitterszenario für die erste Begegnung Werthers mit Lotte, der wir im Originaltext bis zur Verschwörungsformel "Klopstock!" folgen dürfen, wird Salat mit dem Fleischermesser zerlegt, wie der Protagonist sich selbst zerfleischt, wird Musik der Gegenwart zur Beleuchtung für Goethes O-Ton-Passagen ohne Effekthascherei. Alles scheint das rechte Maß zu haben, die Mischung für ein Erfolgsrezept. Und es funktioniert: der Zuschauer is(s)t gebannt von dieser besonderen Speise. Die Lügennase eines Pinocchios entlarvt die tiefe Verzweiflung, die Werther krampfhaft zu überspielen versucht, und nicht nur Lotte graut vor dem, was längst wie eine tödliche Krankheit von unserem traurigen Helden Besitz ergriffen hat. Er dreht sich in Satzwiederholungen um seine fatale Herzachse, sträubt sich gegen das Gehen- und Loslassen-Müssen. Und wie vollziehen wir die Qual in diesem vielfachen Abgang von der Bühne, dem Ort seiner unauslöschlichen Lotte-Sehnsucht, nach! Wie greifbar wird seine Verzweiflung in der Flucht ins Englische, mit der er den erzwungenen Abschied von Lotte von sich zu schieben scheint wie etwas Fremdes: "Albert is back. So I have to leave.", erläutert er wieder und wieder auf die Bühne zurück eilend dem Publikum, das das Gummiband an Werthers Herz förmlich sieht, das ihn, den Unrettbaren, immer wieder in Lottes Umlaufbahn zurückzieht. Ihr stummer Puppenkopfblick steht übergroß auf die Leinwand gebannt über allem. Da ist kein Entkommen. Es kann nicht glücken, das Fortsein, das Werther sich abringt, und die Begegnung mit dem als Lückenbüßer missbrauchten Fräulein B. Und so lässt ihn Stemann auf diesem wackligen Barhocker mit seinen zwei Kaffeetassen den krampfhaften, zum Scheitern verurteilten Versuch eines Häuslich-und-Heimisch-Werdens fern von der Geliebten vollführen, den Blick auf Lottes Styroporpuppengesicht gerichtet, mit zitternden Händen nicht Herr über das Porzellan. Es zerschellt am Bühnenboden, wie Werther zerbricht, als er die Tage des August weit über dessen Ende hinaus in besinnungslosen Sprüngen bis zum 79ten zählt. Ist die unbeschreibliche Pein des an der Liebe Zugrunde-Gehenden besser und einfacher zu beschreiben als mit diesem Tage-Zählen der ins Unerträgliche sich erstreckenden Zeit des psychischen Zusammenbruchs? Hochmair spricht und singt und atmet Werther, zwischen freiem Oberkörper und hoch geknöpftem Jacket. Es bewegt, mit wie viel Präsenz er zu Boden gesackt weinend seinen Tod bereits vorwegnimmt; den rasanten Fall aus himmlischen Höhen der Hoffnung des Liebenden hinter sich, den Entschluss zum Selbstmord als einzigen Ausweg aus dieser Qual direkt vor sich. Fragt jemand nach der selbstverschuldeten Unmündigkeit? Hier ist keine Schuld, auch nicht in dem Schuss in die eigene Schläfe. Hochmair (sonst auf auf großen Bühnen und der Kinoleinwand zu sehen) lässt in Stemanns Inszenierung uns einen Werther erleben, wie er gegenwärtiger, greifbarer, authentischer nicht sein kann. Nicht 250 Jahre alt ist dieser Mann mit Texten aus Goethes Hand auf der Bühne, er ist 25 und leidet wie ein Hund. Und so lassen wir Alberts Appell an das Aushalten-Müssen nicht gelten, denn wir sehen und erleben hautnah: Wer so liebt, ist unrettbar.

Lang anhaltender Applaus. Ein Abend, der einem lange in Erinnerung bleibt. "Albert is back." Und Goethe auch. Schön, wenn Theater das schafft!

Drei Lerngruppen unserer Mittel- und Oberstufe, von Frau Rigterink und Herrn Kroll begleitet, kamen am vergangenen Samstag (17.02.18) in der gut besuchten Alten Weberei in den Genuss dieser ganz und gar nicht provinziellen Theaterproduktion und einer so beeindruckenden schauspielerischen Leistung. Wie schön, wenn sich literarische Vorlage, Dramaturgie, Regie und Darsteller zu einem so überzeugenden Gesamtwerk zusammen- und damit zu uns ins entlegene Nordhorn finden! "Theater lohnt!", haben nicht wenige unserer Schüler am Ende des Abends gedacht.

Mareike Kambach