Zeitzeugen am Gymnasium Nordhorn berichten über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im zweiten Weltkrieg

Wie in vergangenen Jahren haben auch in diesem Jahr polnische Zeitzeugen das Gymnasium Nordhorn besucht und über ihre Familienschicksale im Zusammenhang mit nationalsozialistischer Rassen-, Siedlungs-, Kriegs- und Vernichtungspolitik berichtetet. Vier betagte Zeitzeugen ließen Schülerinnen und Schüler des neunten Jahrgangs an eigenen Erinnerungen aus früher Kindheit und am Schicksal ihrer Familien teilhaben.

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Jan Maciocha, gerade seinen 80. Geburtstag gefeiert, war vier Jahre alt, als im Rahmen der sog. Aktion Zamosc auch sein Heimatdorf im Juni 1943 zwangsgeräumt wurde, um sogenannte "Volksdeutsche" dort anzusiedeln. Einige Familien hatten sich zuvor im Wald versteckt, auch die Maciochas. Sie wurden entdeckt, Frauen und Kinder wurden zusammengetrieben und von einem Sammelplatz aus mit Lastwagen zunächst ins Lager Zamosc überführt. Drei Wochen später wurden sie ins Konzentrationslager Majdanek deportiert. Das Schicksal des Vaters blieb ungeklärt; wahrscheinlich wurde er als Partisan erschossen. J.M. hat Bilder und Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager: das Kahlscheren der Köpfe, die Baracke, die dreistöckigen Holzpritschen, wo sich Mutter, Bruder und er die oberste teilen mussten, die Wassersuppe, von der alle Durchfall bekamen, die 10jährige Kusine, die immer schwächer wurde und starb, die furchtbaren Latrinen, in die er ohne die Hilfe seines Bruders hineingefallen wäre, vor allem die Appelle am frühen Morgen, vor denen alle Angst hatten, weil gebrüllt, geschlagen, getreten und auch geschossen wurde. Sie sahen auch, wie immer Gruppen von Menschen - Männer, Frauen und Kinder- direkt in Baracken geführt wurden, aus denen niemand wieder herauskam. "Sie töten dort die Juden" wussten auch die Kinder.

Mutter und Kinder wurden nach Monaten entlassen und konnten zunächst auf einem Bauernhof unterkommen und wieder einigermaßen zu Kräften kommen. Bei ihrer Rückkehr ins Heimatdorf war dieses vollständig geplündert. Es folgten Angst- und Hungerzeiten bis zur Befreiung des Gebietes durch die Rote Armee. Vor der Deportation versteckte Lebensmittel und Saatgut, weder von den Deutschen noch den Russen entdeckt, sicherten das Überleben, aber lange unter größten Entbehrungen.

Die Schüler fragten vor allem danach, wie man als Kind und auch später mit solchen Erlebnissen überhaupt leben könne. "Kinder können viel vergessen, aber einige Bilder bleiben das ganze Leben." J.M. verwies darauf, dass er trotz des Todes des Vaters und trotz der schrecklichen Erlebnisse durch Schul- und Berufsausbildung und Gründung einer Familie ein "normales" Leben führen konnte. Ein Weg der Bewältigung von Vergangenem und der Verantwortung für die Zukunft ist für J.M. seine ehrenamtliche Mitarbeit in der heutigen Gedenkstätte Majdanek.

Herr Mikolaj Slodowski, Priester der Altkatholischen Kirche, wurde gegen Ende des Krieges im März 1945 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück geboren. Er berichtete, seine Mutter sei im Lager Ravensbrück gewesen, weil sie am Warschauer Aufstand gegen die nationalsozialistische Besetzung teilgenommen habe. Im Lager hätten unmenschliche, unhygienische Zustände geherrscht. Man habe auch Experimente an den vermeintlichen "Untermenschen" durchgeführt. Die Frauen seien als Versuchskaninchen missbraucht worden und sollten alle kurz vor Ende des Krieges vergast werden. Die für medizinische Experimente verantwortliche Ärztin des Lagers durfte nach Beendigung des Krieges, so berichtet M. Slodowski, zunächst wieder als niedergelassene Ärztin arbeiten, wurde dann aber doch noch zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Aus den Leichen der im KZ ermordeten Frauen sei u.a. Seife gemacht worden, aus der Haut Lampenschirme. Aufgrund einer Abmachung mit Bernadotte von Schweden durften einige Frauen das Lager verlassen. Auch Slodowski sei Allerheiligen 1945 für acht Monate in Schweden gewesen. Die Familie von Pater Slodowski lebe heute in Zorrot. Er selbst sei erst später Priester geworden, auch aus Enttäuschung über das politische System der Unterdrückung in Polen. Pater Slodowski warnte vor einem neuen nationalistischen Gespenst in Europa. Ihn erschrecken die Parolen der populistischen Parteien.

Frau Irina Schudek wurde 1938 als Kind jüdischer Eltern in Nadansko in der Mitte Polens geboren. Der Vater war Doktor der Rechtswissenschaft und arbeitete als Anwalt in einer Kanzlei. Sie hätten bis 1942 ein normales leben geführt. Dann seien sie in den Osten Polens deportiert worden. Im Januar 1942 entstand das Ghetto Prody, in dem die Juden einziehen mussten. Auch Irina Schudek wurde mit ihrer Familie dort einquartiert. Dort herrschen sehr schlechte Lebensbedingungen. Es gab sehr wenig Platz und Hunger und Kälte standen auf der Tagesordnung. Das nichtjüdische Kindermädchen der Familie habe ihnen geholfen und Essen und etwas zum Anziehen gegen die Kälte gebracht. Dafür habe sie einen Wachmann bestechen müssen. Das ehemalige Kindermädchen wollte die Kinder retten, aber bei ihrem Bruder hätte sie weniger Erfolgsaussichten, da er ein Junge und er zudem auch älter war. Durch nochmalige Bestechung eines Aufsehers schaffte sie es, die kleine Irina, als wäre sie ihre Tochter, aus dem Ghetto herauszuführen. Sie ließ Irina katholisch taufen, umbenennen, d. h. gab ihr den eigenen Nachnamen und wurde somit die "neue Mutter". Frau Schudek berichtete, ihr Vater habe sie während seiner Zeit im Ghetto auch besuchen können, da er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes die Sondererlaubnis erhalten habe, das Ghetto manchmal zu verlassen.. Im Sommer 1942 wurden Teile des Ghettos liquidiert. Dabei gelang es dem Bruder zu fliehen. Auch er hat bei dem Kindermädchen Unterschlupf gefunden. Am Tag des Transportes sei auch der Vater nicht im Lager gewesen. Das Kindermädchen konnte aber beide nicht auf Dauer bei sich verstecken, da es viel zu gefährlich gewesen sei. Gegen Bezahlung konnte sie beide auf einem Hof unterbringen. Allerdings wurden beide dort im Jahr 1943 entdeckt und ermordet. Zum Ende des Krieges beschloss das Kindermädchen aufgrund ständiger Anfeindungen durch ihre antisemitischen Brüder, den Ort zu verlassen. Zusammen mit Irina zog sie nach Oppeln. Dort sei sie dann zur Schule gelangen und konnte im Jahr 1956 ihr Abitur ablegen. Anschließend habe sie in Breslau Mathematik studiert und 1961 ihr Studium erfolgreich abgeschlossen. Ihre "zweite Mutter" sei im Jahr 1991 gestorben; sie habe nie geheiratet und keine eigene Familie gegründet. Von den Schülern nach ihrer leiblichen Mutter gefragt, antwortete Frau Schudek, sie sei wahrscheinlich in Auschwitz ermordet worden und könne sich kaum noch an sie erinnern. Sie selbst habe später geheiratet und zwei Kinder bekommen. Diese habe sie im katholischen Glauben erzogen. Ihrem Mann habe sie erst sehr spät von ihrer Kindheitsgeschichte erzählt. Sie hätte zwischenzeitlich überlegt, ihren alten Namen wieder anzunehmen, habe es dann aber nicht gemacht. Sie fühle sich sowohl als Jüdin als auch als Christin. Seit zwei Jahren erst berichte sie über ihr Leben. Sie habe die Hoffnung, dies noch ein paar Jahre machen zu können. Sie habe Frieden geschlossen, sehe es aber als ihre Pflicht an, über die schrecklichen Ereignisse während der nationalsozialistischen Herrschaft zu reden und die Liebe weiterzugeben und mit ihren Zuhörern zu teilen, die sie selbst erfahren habe.

Frau Elzbieta Novak wurde am 19.4.1945 im Konzentrationslager Ravensbrück geboren. Zum Glück, so sagt sie, könne sie sich nicht persönlich an die furchtbaren Erlebnisse im Lager erinnern. Ihre Mutter habe kaum über die Zeit gesprochen, sodass Elizbieta nur durch vor Kurzem gefundene Aufzeichnungen, welche ihre Mutter in den neunziger Jahren anfertigte, weiß, was ihre Mutter erlebt habe. Diese musste mehrere Lager durchlaufen, darunter Ausschwitz, bis sie nach Ravensbrück verlegt wurde, wo sie in unvorstellbaren, unmenschlichen Verhältnissen ihre Tochter zur Welt gebracht habe. Die Schilderungen aus den Aufzeichnungen von Elzbietas Mutter lassen erahnen, welcher Atmosphäre von Todesangst und Hoffnungslosigkeit die Häftlinge jeden Tag ausgesetzt waren. Tägliche, stundenlange Appelle in dünner Häftlingskleidung bei jedem Wetter sowie schwerste Arbeit bei mangelhafter Ernährung gehörten zum Alltag. Die Traumata dieser Zeit hätten ihre Mutter, so berichtet Novak, noch viele Jahre verfolgt, sodass sie sich beispielsweise in Panik versteckte, sobald jemand nur unangekündigt an die Tür klopfte. Letztendliche habe Elzbieta Novaks Mutter in der Liebe zu ihren Kindern aber die Kraft gefunden, mit all den Erinnerungen an das Furchtbare leben zu können.

Die Betroffenheit der Schülerinnen und Schüler war groß, was sich vor allem an den vielen Fragen an die Zeitzeugin im Anschluss an ihren Vortrag äußerte. Es wurde klar, dass kein Medium des Unterrichts das Grauen der Zeit im Konzentrationslager so vermitteln kann wie der Bericht einer Zeitzeugin.