Wir schreiben den 19.Dezember 2018. Mit Schulbeginn an diesem Tage ist es draußen noch dunkel und kalt. Vor dem Cafeteria-Gebäude des Gymnasiums Nordhorn wartet eine fünfte Klasse. Der Klassenlehrer, Herr Schreiber, lässt die wartenden Schüler ins Gebäude. Womit beschäftigt sich diese Schülergeneration an diesem Morgen? Eine Generation, die mit dem Fortschritt unserer heutigen Zeit aufwächst, die den Fortschritt lebt und vorantreiben wird? Wie sind diese Schüler heute noch zu packen, abzuholen und mitzunehmen?
Mit MÄRCHEN! Märchen?

Märchen sollen diese Schüler noch mitreißen? Sind diese Geschichten nicht aus der Zeit gefallen? Haben diese Texte denn überhaupt noch einen Bezug zu der Lebenswelt dieser Schüler?

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Auf diese Fragen finden fünf fünfte Klassen des Gymnasiums Nordhorn an diesem Vormittag nur eine Antwort. JA.

JA, sie haben die Schüler mitgerissen, haben sie in eine andere Welt entführt, mal nach Afrika, mal nach Russland, mal ins Baskenland. JA, die Geschichten sind aus einer anderen Zeit! Und dennoch beschäftigen sie sich im Kern mit fundamentalen Fragen und Problemen, die wir auch heute noch zu lösen versuchen. Armut, Neid, Hass und Gier. Auf der anderen Seite Liebe, Freundschaft und Fürsorge. Und somit sind Märchen heute noch genauso aktuell und spannend, wie vor 100 Jahren.

Fünf fünfte Klassen dürfen an diesem Vormittag der Märchenerzählerin Heike Koschnicke lauschen, mit ihr in einen Austausch treten und sich Märchen wünschen. Die Schüler beschäftigen sich an diesem Tage mit Fragen nach der Herkunft von Märchen. Gibt es eigentlich auch im Urwald Märchen? Welche Figuren treten typisch in Märchen auf? Gibt es Unterschiede in den Nationen? Warum heißt Schneewittchen eigentlich Schneewittchen und wie haben Märchen überhaupt bis in die heutige Zeit überlebt? All dies vermittelt den Schülern einen ersten Einstieg in die Thematik, bevor Frau Koschnicke aus dem Nähkästchen plaudert. Plötzlich ist alles ruhig. Nur die Stimme von Frau Koschnicke durchbricht diese Stille und zieht die Schüler mit samt ihren Lehrern in den Bann der Märchen.

"Kholomodumo" - ein afrikanisches Märchen über Leiden und Rettung ist das erste Märchen an diesem Vormittag. Ein Märchen, das viele Parallelen zur Lebensgeschichte Jesu aufweist. Da ist die Parallele zwischen Salas Mutter und Maria, der Mutter des Gottessohnes. Eine Parallele zur Geburt im Stall. Zu Jesus, dem Kind ohne irdischen Vater, dem besonders begabten Jungen im Tempel. Zu Jesus, dem Wunderträger, dem Gegenspieler der Sünde, dem Retter der Menschen. Da existiert die Parallele zu den Zeitgenossen, die mit Unverständnis und Undank reagieren. Außerdem die Parallele zum Kreuzetod Jesu, seiner Auferstehung und Himmelfahrt.

Das Märchen "Die Reise zur Sonne", in dem ein Küchenjunge nach mehreren Hindernissen schließlich die Hand einer Prinzessin für sich erwirbt und "Der Laminak" aus dem Baskenland folgen dem ersten freien Vortrag.

In der zweiten Stunde soll es zum Einstieg ein russisches Märchen sein, so eine Schülerin. Spontan und ohne zu zögern beginnt Frau Kochnicke das Märchen "Die Froschprinzessin" zu erzählen. Ihr Repertoire scheint unbegrenzt, doch sie betont, auch sie kenne nicht alle Märchen. Niemand kenne alle Märchen. Viele weitere Märchen folgen diesen Märchen aus den ersten beiden Stunden.

So wunderbar frei, ansprechend, motivierend und spontan erzählt Frau Koschnicke, dass es schwer fällt, nicht von diesen Märchenstunden zu schwärmen. Wir bedanken uns ganz herzlich für die spannenden, lehrreichen, herzergreifenden und lustigen Märchen.

Ein weiterer Dank geht an den Förderkreis des Gymnasiums Nordhorn, der auch in diesem Jahr die Finanzierung dieser Veranstaltung ermöglicht hat.

Anne Hilbers