– eine Theateraufführung in der Aula für die Schüler der Geschichtskurse der Jahrgänge 11 und 12 am 13. Dezember 2016

Geschichte in die Gegenwart holen, verstehbar und erlebbar machen – mit der Kunstform des Theaters wird das möglich. Wenn Zeitzeugen verstorben sind, können ihre persönlichen Erinnerungen auch über erzählerisch – spielerische Kunstformen vermittelt werden, und zwar eindrücklich und bewegend. Diese Erfahrung konnten die ca. 180 Schüler und Schülerinnen aus den Geschichtskursen während der ca. 70minütigen Aufführung von „Moshes zweites Leben“ machen, einem historisch-dokumentarischen Kammerspiel, das  unter Beisein des Autors Martin-G. Kunze die Bühne der Aula in ein Szenario von Leid und auch Hoffnung verwandelte.

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Es ist die Geschichte von Moshe Oster und Josef Dreilinger, die ein Beispiel liefert für die Todesmärsche im Frühjahr 1945, die mindestens 250000 Menschen den Tod brachte, für Brutalität und Willkür von NS-Funktionsträgern, von Ausbeutung durch Arbeit und unvorstellbarer Erniedrigung und Leiden. Es ist aber auch eine Geschichte vom Überlebenswillen und der Hoffnung auf ein Leben jenseits nationalsozialistischer Unmenschlichkeit. Moshe Oster und Josef Dreilinger sind bei Kriegsende 18 bzw. 19 Jahre alt. Das hinter ihnen liegende Grauen wird auf der Bühne zweifach vermittelt: im sparsam eindringlichen Spiel, das den Zuschauer in das Krankenlager des befreiten KZ Bergen-Belsen führt und hier in die körperliche und psychische Verfassung der beiden Hauptpersonen und zum anderen in nüchtern dokumentarischen Erzählszenen, in denen die drei Schauspieler aus ihren Rollen heraustretend über das vorausgegangene Leiden vor dem Hintergrund des KZ-Terrors in dokumentarischer Sachlichkeit informieren.

Moshe Oster und Josef Dreilinger waren nach der „überstandenen“ Selektion in Auschwitz im Arbeits-Außenlager Laurahütte bei Kattowitz inhaftiert. Nach dessen Räumung wurden sie nach Hannover-Mühlenberg überführt, Arbeits-Außenlager des KZ Neuengamme (und wurden dabei sichtbar für die Bevölkerung durch Hannover getrieben). Die baulichen und sanitären Bedingungen im Lager waren katastrophal, die Ernährung völlig unzureichend und der tägliche 12stündige Arbeitseinsatz im zu Fuß zu erreichenden 3 km entfernten Rüstungsbetrieb Hanomag brutal – von der Drangsalierung der Bewacher ganz zu schweigen. Am 4. April wurde die „KZ-Juden“ aus Mühlenberg zu Fuß in das KZ Bergen-Belsen getrieben, völlig erschöpf, wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Bergen-Belsen war Zielort für Zehntausende auf sog. Todesmärschen dorthin geschickte Häftlinge aus den frontnahen Konzentrationslagern, völlig überfüllt, Epidemien waren ausgebrochen, Versorgung fand nicht mehr statt. Moshe Oster und Josef Dreilinger erlebten dort die Befreiung durch die britische Armee am 15. April 1945.

Die Spielszenen mit spärlich grauen Requisiten führten den Zuschauer in das Krankenlager des befreiten KZs Bergen-Belsen,  in die Stimmungen und Gedanken der beiden jungen Männer, dargestellt durch die jungen Schauspieler Andreas Daniel Müller als Moshe Oster und Gerrit Neuhaus als Josef Dreilinger. Dreilinger ist der robustere, der erkennen lässt, was im Zurückliegenden das Überleben sichern konnte: „selbst zur Ratte werden“.  Er kann sich fast pragmatisch dem Leben nach dem Überleben stellen – er isst, soviel er kann und bekommt, er wird sich verlieben.  Oster ist  der körperlich und seelisch zerstörte, der trotz „Befreiung“  weder den Willen noch die Kraft zum Weiterleben hat. Eindringlich vermittelten die Schauspieler diese Befindlichkeiten in sparsamer, eindeutiger Gestik, Mimik, Sprache. Eine englische Krankenschwester,  gespielt von Hanna Legatis, unternimmt den Versuch, nicht nur mit Nahrung zu versorgen, sondern auch mit Hoffnung, dadurch Traumata zu durchbrechen. „Wofür soll ich leben?“ lautet Moshes einfache Frage, dessen ganze Familie und zuletzt noch in Bergen-Belsen seine Schwester von den Nazis ausgelöscht wurde. „Für dich“ lautet die ebenso einfache Antwort der Krankenschwester, „weil das Leben ein Geschenk ist; vertrau darauf.“ Es ist diese Frau, die mit ihrer Zuwendung und Hartnäckigkeit („Ich lass es nicht zu, dass die Nazis auch jetzt noch gewinnen“) Moshe mitnimmt in ein neues, zweites Leben,  in dem er, wie er sagt, „wieder lernen muss Mensch zu sein“, wieder „Moshe“ zu sein und in dem sich für ihn als eine dann „Displaced Person“ die Frage nach einer neuen Heimat stellt (Palästina?), nachdem alles, was einmal Heimat für ihn war, nicht mehr existiert.

Gegen Ende der Aufführung wurde den Zuschauern diese Wiedergewinnung von Identität auch dadurch sicht- und hörbar vermittelt, dass kurze Interviewausschnitte mit den betagten und mitlerweile verstorbenen Oster und Dreilinger auf der den Bühnenraum abschließenden Leinwand projiziert wurden. Diese Authentizität ermöglichte mit dem überzeugenden Spiel der Akteure und der dichten Information für die Zuschauer ein hohes Maß an Identifikation und Zugewinn an Kenntnissen und Einsichten. Der  Applaus der Schüler und ihre positiven Rückmeldungen bestätigten, dass mit dieser Aufführung nicht nur das historische Lernen bereichert wurde, das Erleben von Schicksalen und das Erinnern an Vergangenes, das nicht vergessen werden darf, sondern auch hoch aktuelle, zum Nachdenken anregende Fragen aufgeworfen wurden über die Zerstörung von Heimat und der Hoffnung auf eine neue.

Karin Beckmannshagen